Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit, Entspannung – all dies erleben wir beim Zeichnen und Malen. Aber wie kommen diese Wohlfühl-Effekte zustande? Gibt es künstlerische Techniken, die diese heilsame Wirkung speziell fördern, und wie wirkt sich all dies auf unser Leben abseits von Zeichentisch und Staffelei aus? Diesen Fragen sind Neurologen, Psychologen und Therapeuten in zahlreichen Studien nachgegangen – und sie bestätigen, was wir ohnehin ahnen und selbst erfahren.
1. Zeichnen macht glücklich
Sagen wir es vorsichtig: Der Prozess des künstlerischen Schaffens steigert das Wohlbefinden. Dieses subjektive Empfinden entspricht dem, was sich objektiv im Hormonhaushalt abspielt. Das Gehirn schüttet vermehrt das Glückshormon Dopamin aus, umgekehrt sinkt der Spiegel des Stresshormons Cortisol. Das haben Forscher in mehreren Studien herausgefunden. Sie entnahmen den Versuchspersonen Speichelproben und ließen sie eine knappe Stunde lang zeichnen, was immer sie wollten. Danach wurde der Speichel erneut untersucht. Dabei zeigte sich bei Künstlern und ungeübten Teilnehmern das gleiche Bild. Die gute Nachricht für Anfänger: Das künstlerische Niveau spielt für die Freude am Zeichnen keine Rolle.
2. Kreativität macht kreativer
Vor uns ein Blatt Papier und ein Stift, und im Kopf eine – oder noch keine – Bildidee: Schon beginnt das Gehirn nach Lösungen zu suchen. Selbst mit einem bestimmten Motiv vor Augen ist kreatives Denken gefordert. In welchem Stil, in welcher Technik und – ganz banal – mit welchen Stiften gehe ich ans Werk? Vielleicht ändert sich unterwegs auch das Ziel, wir lösen uns von selbstgewählten Zielen und öffnen uns unversehens für neue Erfahrungen. Kreativität löst gedankliche Blockaden. Was wir im künstlerischen Schaffen erleben und trainieren, hilft uns auch bei den Herausforderungen des Alltags.
3. Das Gedächtnis verbessert sich
Wer viel zeichnet, verringert das Risiko, im Alter an Gedächtnisstörungen zu erkranken. Denn wir leben in deiner Welt, in der uns die Digitalisierung immer mehr geistige und auch feinmotorische Arbeit abnimmt. Tippen mag praktischer sein, aber kein Ersatz für das Führen eines Stiftes. Das Schreiben wie das Zeichnen hinterlässt bleibende Spuren, nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Gehirn. Bild, Bedeutung und handgreifliches Tun verbinden sich miteinander. Wir trainieren unser Gedächtnis, merken uns Dinge besser, können sie leichter mit anderen Erfahrungen verknüpfen – und bleiben geistig fitter.
4. Wir sehen mehr
Das Zeichnen beginnt mit dem genauen Hinsehen – ganz banal mit der Suche nach geeigneten Motiven. Das schult die Wahrnehmung und schärft den Blick für interessante Details, die einem sonst entgehen würden: Das kann das wechselnde Schattenmuster auf dem Weg unter Bäumen sein, das Gesicht im Stiefmütterchen, das Lichtspiel auf Glas oder Metall oder der Verlauf der Farben auf einer reifen Birne. Oberflächlich betrachtet sind das gewöhnliche Dinge. Aber wer viel zeichnet, dem kommen interessante Motive von selbst entgegen. Das bereichert das Leben, und man lernt, die Welt mit neuen Augen zu sehen – auch dann, wenn man zunächst gar nicht an Stift und Papier denkt, oder daran, ein Motiv im Foto festzuhalten.
Und was mit dem wachen Blick in die Welt beginnt, setzt sich beim Zeichnen noch intensiver fort. Denn diese Bildidee gleichen wir fortwährend mit dem Erscheinungsbild auf Papier ab, und erkennen Unstimmigkeiten – was nicht immer angenehm sein muss, aber die visuelle Wahrnehmung schult.
5. Wir verstehen uns besser
Stimmungen und Emotionen lassen sich mitunter schwer in Worte fassen, aber in Bildern ausdrücken – vorausgesetzt, man lässt sich auf diese Erfahrung überhaupt ein. Dann kann das Zeichnen und Malen zu einer stummen, aber intensiven Art des inneren Gesprächs werden. Die Gefühle finden zu Formen und Farben, in denen wir uns selbst etwas mitteilen, was sich anders kaum sagen lässt. Auf diesem Weg der Selbstwahrnehmung lernen wir, uns selbst besser zu verstehen – und können wir uns vielleicht leichter in andere Menschen einfühlen.
6. Wir werden geschickter
Eine schöne Erfahrung: Der Stift wird vom widerspenstigen Gegner zum Partner, der mit der Zeit von selbst versteht, was wir von ihm wollen. Mit der Zeit und viel Übung reagieren die Muskeln der Hand immer feinfühliger. Hand, Auge und Gehirn steuern ihr Zusammenspiel mehr oder weniger selbst. Wir können uns auf diese Routinen verlassen, ohne jedes Mal darüber nachzudenken, wo welcher Strich in welcher Richtung und Stärke verlaufen soll. Was für Anfänger anstrengend sein kann – Sie erinnern sich vielleicht – wird zur Routine, und der Kopf bleibt frei für künstlerische Ideen, die sich dann gekonnt umsetzen lassen. Je besser Sie den Stift oder Pinsel sozusagen im Griff haben, desto leichter fällt auch die Anwendung verschiedener künstlerischer Techniken.
7. Wir üben uns in Geduld
Ein Bild entsteht selten in einem einzigen kreativen Kraftakt, sondern braucht seine Zeit. Das gilt für den Weg von der Motividee bis zum fertigen Bild, viel mehr aber noch für die Zeit von ersten künstlerischen Gehversuchen über das Erlernen von Techniken bis zum ansehnlichen Resultat. Selbst eine flinke Skizze ist das Ergebnis von Übung und Wiederholung. Gut Ding braucht Weil – und Geduld und Beharrlichkeit. Wie in der Kunst, so im Leben.
8. Wir schaffen unser eigenes Werk
Das moderne Zauberwort heißt Selbstwirksamkeit: die Erfahrung, dass wir aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln etwas Gutes bewirken können – mehr oder weniger unabhängig von anderen Menschen oder Faktoren. Meine Entscheidung, mein Bild: Das schafft Selbstvertrauen, macht zufrieden und kann, wie Kunsttherapeuten betonen, auf das ganze Lebensgefühl ausstrahlen.
9. Zeichnen ist gesund
Kreatives Schaffen baut Stress ab und hilft, mit Depressionen und Ängsten besser umzugehen. Das in diesem Sinne therapeutische Zeichnen lindert zugleich körperliche Schmerzen. Studien zeigen, dass Achtsamkeitsübungen wie das Zeichnen und Stricheln von Mustern diese heilsame Wirkung nachhaltig verstärken. Krebspatienten beispielsweise fühlen sich körperlich und emotional weniger belastet.
Von Norbert Landa, Bilder Hanne Türk